Doris Bischof-Koehler Forschung

Kognitiver und emotionaler Strukturwandel in der «ödipalen Phase»

Gegen Ende des vierten Lebensjahres erkennen Kinder den subjektiven Charakter eigener und fremder Bewußtseinsinhalte (Theory of Mind), und sie werden fähig, die Zeitdimension als Adreßspeicher einzusetzen und Handlungsanreize aus beliebigen Zellen dieses Speichers zu aktualisieren.

Im Zuge desselben Entwicklungsschrittes erkennen sie auch ihre Geschlechtszugehörigkeit als verbindlich. Wie eigene Vorstudien zeigen, bestehen zwischen den genannten Leistungen altersunabhängige Korrelationen.

Das Projekt soll diesen Zusammenhang in die sozio-emotionale Dimension hinein erweitern. Den Theorierahmen bildet die Erwartung, dass die genannten Zusammenhänge auf der Entwicklung einer bereichsübergreifenden Kompetenz beruhen, Erfahrungsinhalte simultan in verschiedene Bezugssysteme einzubetten.

Diese Fähigkeit beschränkt sich nicht auf den kognitiven Bereich, sondern zeigt auch Wirkungen auf das emotionale Erleben der eigenen Familiensituation. Kinder trennen, sobald sie über die genannten Fähigkeiten verfügen, die zuvor einheitlich erlebte Familienatmosphäre in eine väterliche und eine mütterliche Teilwelt, in der beide Eltern ihr Eigenleben führen und Ziele verfolgen, die nicht nur auf das Kind zentriert sind.

Diese Erkenntnis führt zu einer emotionalen Beunruhigung und macht eine Neuorientierung erforderlich, in der sich das Verhältnis zu den Eltern ändert. Diese Erklärung wird als Alternative zum Freudschen Postulat einer ödpialen Thematik diskutiert.

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Zur Untersuchung der Fragestellung wurde ein projektives Verfahren (Zwei-Berge-Versuch) entwickelt, bei dem die Kinder mit einer Bärenfamilie (Eltern und Kind) und weiteren Märchenfiguren in einer durch eine Schlucht unterteilten Berglandschaft aus Styropor frei spielen (siehe Bild).

Der Zwei-Berge-Versuch wurde bisher an über hundert Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren durchgeführt, wobei bei 77 dieser Kinder auch Theory of Mind (false belief), Zeitverständnis und die Entwicklung der Geschlechtsidentität getestet wurden. Dabei ergaben sich signifikante und zum Teil altersunabhängige Korrelationen zu den Spieltypen im Zwei-Berge-Versuch.

Vor der Ausbildung der kognitiven Neuerwerbe wird die Familiensituation als einheitlich und konfliktfrei dargestellt; die Elternfiguren werden noch nicht differenziert wahrgenommen. Mit dem Einsetzen der kognitiven Fähigkeiten tritt die Trennungsthematik in der Vordergrund, und die Spielverläufe weisen darauf hin, daß die Familiensituation als konflikthaft erlebt wird. Ab dem Alter von etwa 5 Jahren erlangt die Kindfigur eine selbständige Stellung innerhalb des Familiensystems, und die Beziehung zu den Eltern konsolidiert sich.

Ein zweiter Schwerpunkt des Projekts ist die Entwicklung und Erprobung eines computergestützten Expertensystems, das den Umgang mit dem unvermeidbar «weichen» Datenmaterial des Zwei-Berge-Versuchs die gebotene Objektivität sichern soll.

Literatur

Zmyi, N. und Bischof-Köhler, D. (2013) The development of gender constancy in early childhood and its relation to time comprehension and false-belief understanding. Journal of Cognition and Development 16(3), 455-470.

Cover Soziale Entwicklung Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend
Bindung, Empathie, Theory of Mind

Kohlhammer, 2011

Über dieses Buch

Symposium: «Cognitive and socio-emotional changes in four year olds: Are they manifestations of a common underlying process?» XXIX International Congress of Psychology, Berlin, 20.-25.7.2008. Abstracts

Bischof-Köhler D. & Bischof N. (2007). Is mental time travel a frame-of-reference issue? Open peer comment to: Suddendorf T. & Corballis M.C.: The evolution of foresight: What is mental time travel and is it unique to humans? Behavioral and Brain Sciences 30(3), 316-17.

Bischof-Köhler, D. & Bischof, N. (1996). Die «Ödipale» Phase im Lichte empirischer Forschung. In H. Kretz (Hrsg), Lebendige Psychohygiene (75-99). München: Eberhard Verlag.

Bischof, N. (2020): Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, in der wir die Welt erschaffen haben. Gießen: Psychosozial-Verlag.